Astrid Brüggemann - Märchen in München

Das steinerne Kanu

Märchen der Chippewyan

Es geschah einmal, dass ein junges Mädchen gerade an dem Tage starb, an dem sie einen jungen Krieger des Stammes heiraten sollte. Der Mann hatte den ganzen Sommer durch um sie geworben, und es war ausgemacht, dass sie beim ersten Schnee Mann und Frau werden sollten. Als er von ihrem Tode erfuhr, war er untröstlich, und nichts konnte ihn aus seiner Schwermut reißen. Jeden Tag begab er sich an die Stelle, wo die alten Frauen der Sippe den Leichnam seiner Braut bestattet hatten. Selbst seine Freunde konnten ihn nicht bewegen, stattdessen auf die Jagd zu gehen oder gar mit ihnen auf den Kriegspfad zu ziehen. Sein Herz war wie abgestorben, weder Pfeil und Bogen noch Tomahawk interessierten ihn mehr.

Da erinnerte er sich schließlich einer alten Legende des Stammes; irgendwo tief im Walde sollte es einen Pfad geben, der in das Land der Toten führte. Sogleich beschloss er, diesen Pfad zu suchen.

Schon am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg. Zunächst wusste er nicht, wohin er sich wenden sollte, aber dann wanderte er nach Süden, wo der Überlieferung nach das Land der Toten liegen musste. Lange wanderte er durch den verschneiten Wald, ohne irgendwelche Veränderungen zu bemerken; alles sah genauso aus wie bei ihm daheim. Wälder, Hügel, Täler und Bäche waren mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, die das Vorwärtskommen erschwerte. Schließlich jedoch hörte der Schnee auf, und die Landschaft sah freundlicher aus. Überall regten sich die Vögel, Blumen blühten, und dicke Knospen zeigten an, dass der Frühling angekommen war. Endgültig hatte der Krieger den Winter hinter sich gelassen. Warm war die Luft, und die Sonne spielte auf dem Pfade, auf dem er seit einiger Zeit dahinzog. Nun war er gewiss, dass er sich auf dem richtigen Wege befand, denn im Lande der Toten sollte ewiger Sommer herrschen.

Gerade hatte er einen lichten Bestand von Zuckerahorn durchwandert, als er auf der Anhöhe vor sich einen Wigwam gewahrte. Neben der Rindenhütte aber stand ein alter Mann mit langem Haar, einen Bogen in der Hand. Freundlich begrüßte ihn der junge Chippewyan und hob zum Zeichen der Freundschaft die Rechte, um anzudeuten, dass er keine Waffe darin trug. Der Alte forderte ihn auf einzutreten. Als beide am Feuer saßen, begann der junge Krieger seine Geschichte zu erzählen. Doch der alte Häuptling, denn um einen solchen musste es sich der Kleidung nach handeln, unterbrach seinen Gast:

"Ich habe dich erwartet, denn die, die du suchst, ist vor ein paar Tagen hier vorbeigezogen. Da sie von der langen Reise erschöpft war, hat sie einige Zeit bei mir gerastet. Doch dann musste sie weiter und konnte nicht auf dich warten. Sei mein Gast, ich will dir alle Fragen beantworten und dir für den weiteren Weg Ratschläge geben. Jenseits der Höhe beginnt das Land der Seelen, und mein Wigwam steht an der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Wenn du morgen weiterziehst, musst du deinen Körper bei mir zurücklassen, genau wie deinen Bogen und deinen Hund. Ich werde alles aufbewahren bis zu deiner Rückkehr, denn du wirst zurückkehren ins Land der Menschen."

Am nächsten Morgen machte sich der junge Krieger wieder auf den Weg, aber die Welt war seltsam geworden. Obwohl alles sein natürliches Aussehen hatte, fühlte sich der junge Mann ganz unbeschwert. Reich war das Land an Wild. Vögel sangen in den Büschen, Hirsche zogen zur Tränke, und auf den Lichtungen balzten wilde Truthähne. Beeren und Früchte gab es im Überfluss. Mit erstaunten Augen besah sich der Krieger dies Geisterreich, selbst durch die dicksten Bäume vermochte er mit Leichtigkeit hindurchzuwandern, ohne sie auch nur zu spüren.

Mittags kam er an das Ufer eines weiten blauen Sees. In der Ferne lang eine große Insel, die leuchtend über dem Wasser stand. Am Ufer jedoch schaukelte ein weißes Kanu, das ganz aus Stein bestand, aber dennoch auf dem Wasser schwamm. Im Boot lagen zwei Paddel, weiß und glänzend. Da besann er sich nicht lange, sondern bestieg das Kanu, nahm ein Paddel zur Hand und stieß vom Ufer ab. Mit einem Male sah er ein zweites Kanu auf dem Wasser und darin das Mädchen, das er so lange gesucht hatte. Bald trafen sich die Boote auf dem See, dessen Wellen immer wieder über den beiden Booten zusammenzuschlagen drohten. Aber sobald sich eine große Welle näherte, schossen die beiden Kanus durch sie hindurch, als ob sie Luft sein. Klar und durchsichtig wie Bergkristall war das Wasser. Auf dem Seegrunde aber lagen die Knochen vieler Menschen, die bei der Fahrt über das Wasser umgekommen waren. Ganze Haufen lagen dort beisammen, und stellenweise verschwand der weiße Sand unter ihnen. Der Krieger und das Mädchen hatten große Angst, aber es geschah ihnen nichts. Unbeschadet landeten sie auf jener Insel, denn der Große Geist hatte beschlossen, diese beiden Menschen ungehindert über den See zu lassen.

Die Insel war ein Wunderland, wo stets die Sonne schien und niemand zu hungern brauchte. Die Luft selbst genügte zum Leben, keiner der Bewohner brauchte auf die Jagd zu gehen, und auch die Tiere schienen das zu wissen und zeigten keine Scheu vor den Menschen. Niemand trauerte um die Toten, denn auf dieser Insel musste niemand sterben. So gab es keine Kriege und keinen Streit.

Gern wäre der junge Krieger in diesem Lande geblieben, aber der Große Geist ließ sich vernehmen: "Gehe zurück zu deinem Körper und in das Land, woher du gekommen bist. Wenn deine Zeit um ist, will ich dich rufen. Die Pflichten, zu denen du geboren bist, sind noch unerfüllt. Gehe zurück zu deinem Stamm, einst wirst du unter ihnen als Häuptling leben. Der alte Häuptling, dem du deinen Körper gegeben hast, wird dir erklären, was deine Pflichten sind. Höre auf ihn, und eines Tages wirst du wieder auf dieser Insel sein. Jetzt aber musst du die, die dich hierhergeführt hat, verlassen. Wenn du meinen Worten gehorchst, wirst du sie eines Tages wiedersehen, denn sie darf für immer hierbleiben. Sie wird stets so jung und hübsch sein wie an dem Tage, an dem ich sie aus dem Land des Schnees und des Winters abberufen habe."

Als die Stimme des Großen Geistes schwieg, erwachte der junge Krieger und fand sich plötzlich daheim, wo es noch immer Winter war. Später soll er ein großer Häuptling geworden sein.
 
 
Quelle: Märchen der Nordamerikanischen Indianer.
Diederichs Märchen der Weltliteratur.
Herausgegeben von Gustav A. Konitzky. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1992

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Die Geschichte von der Beutelratte, die ihr altes Leben müde war und sich verändern wollte...
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