Geschichtenschmaus
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Geschichtenschmaus
- Das steinerne Kanu
- Der aufmerksame Mann
- Der Hirte und die Fee
- Der Igel, der immer die Wahrheit sagte
- Der Indianer und der Wolf
- Der Mond und seine Mutter
- Der Tempel der tausend Spiegel
- Der Tod und das Knäckebrot
- Der tote Geliebte
- Der Weg zur Erkenntnis
- Der Wunsch
- Die Ameise und der Esel
- Die Aufgabe des Königs
- Die Blumenfrau
- Die drei Männlein im Walde
- Die zwei Riesen
- Ich nach Walpe, du nach Walpe
- Spuren am Weg
Der tote Geliebte
Vor vielen Jahren hatte der Stamm der Tschale einen reichen Häuptling namens Korindo, der war auf seinen großen Reichtum ebenso stolz wie auf die Schönheit seiner einzigen Tochter Mariussa. Viele Männer des Stammes hatten sich in das Mädchen verliebt und waren zu Korindo gegangen und hatten sie zur Frau verlangt.
Dem Vater aber war keiner gut genug gewesen und eines Tages erklärte er auf einer allgemeinen Versammlung sogar: „Ich gebe Mariussa überhaupt keinem Zigeuner zur Frau!“ Diese Rede stürzte nicht nur Mariussa, sondern auch ihren Geliebten, Jarko, in tiefste Verzweiflung. Jarko liebte die Tochter seines Häuptlings mehr als sein Leben.
In der folgenden Nacht verließ Mariussa heimlich ihr Zelt und ging zu Jarko, der am Waldrand die Pferde des Stammes hütete. Sie weinten beide, wussten nicht, was sie tun sollten und konnten einander nicht trösten.
Korindo bemerkte die Abwesenheit seiner Tochter und schickte seine beiden Söhne aus: „Geht und sucht Mariussa!“ Die eifersüchtigen Brüder fanden die Schwester in den Armen ihres Geliebten. Mariussa lief ängstlich davon, die Brüder aber fielen wütend über Jarko her, erschlugen ihn und begruben ihn heimlich am Waldrand. Dann stachen sie das Lieblingspferd des Häuptlings nieder und verscharrten es zu Füßen von Jarkos Leichnam.
Sie kehrten in das Zelt des Vaters zurück: „ Jarko ist aus Furcht vor deinem Zorn als Häuptling in wilder Flucht davongeritten und wird sich wohl niemals mehr in die Nähe unseres Stammes wagen!“ Mariussa weinte bittere Tränen und wurde krank aus Kummer und Sorge um ihren geflohenen Geliebten.
Einige Monate waren seither vergangen. Der Stamm war weitergezogen und von Jarko glaubten sie, er ziehe ruhelos durch die Welt. Niemand hatte seither irgendetwas von ihm vernommen.
Einmal konnte Mariussa nicht schlafen. Mitten in der Nacht stand sie auf, ging hinaus vor das Zelt und setzte sich an den Bachrand. Voll Trauer und Sehnsucht dachte sie an ihren verschollenen Geliebten und wünschte aus tiefstem Herzen: „Ach, wenn ich ihn doch noch einmal wiedersehen könnte, sei es lebendig oder tot.“
Da hörte sie aus der Ferne Pferdegetrappel, das näher und näher kam und erblickte vor sich auf einmal ein weißes Ross und darauf ihren Geliebten. Seine Kleider waren blutbesprengt, sein Haar und Antlitz weiß von Reif. Überglücklich sprang Mariussa zu ihm in den Sattel hinauf, küsste ihm den Reif von Stirn und Wangen und nahm seine eiskalten Hände zärtlich in die ihren, um sie zu wärmen. Und während das Pferd mit ihnen in die dunkle Nacht davon sprengte, flüsterte Jarko seiner Geliebten zu: „Der Reif auf meiner Haut, der Reif auf meinen Wangen, das sind deine Tränen, Mariussa, die mich wie glühende Kohlen brennen.“
An einem offenen Grab blieb das Pferd stehen. Jarko stieg mit seiner Geliebten in die Grube hinab, und während Mariussa, die Lebende, ihren toten Geliebten herzte und küsste und sie einander umschlangen, lag das weiße Pferd regungslos zu ihren Füßen.
Als der Morgen graute und die Vögel im Wald erwachten und zu singen begannen, sprach Jarko zu seiner Geliebten: „Steh nun auf und geh zurück zu den Deinen! Ich muss in meinem Grab bleiben und kann nicht fort, denn deine Brüder haben mein Herz durchbohrt. Weine nie mehr um mich, meine Geliebte. Deine bitteren Tränen brennen mich wie glühende Kohle. Deine Freude aber, dein Lachen, dein Glück füllen meine düstere Gruft mit Rosen und süßem Rosenduft.“ Kaum war das letzte Wort verklungen, sank er zurück ins Grab und die Erde schloss sich über ihm.
Da lief Mariussa, vor grausem Schrecken erfüllt, davon. Einige Zeit verging, da fühlte Mariussa sich schwanger, aber nach neun Monaten brachte sie kein Kind zur Welt. Einen Stein brachte sie zur Welt. Der Stein erhob sich in die Luft und flog windesschnell und schwerelos, einem Vogel gleich, in das nächste Zelt. Hier waren die beiden Söhne des Häuptlings nicht. Er flog in ein zweites und drittes Zelt, bis er sie traf. Er traf sie am Kopf, sie stürzten zu Boden und starben. Danach war der Stein verschwunden. Mariussa aber wurde tot auf ihrem Lager gefunden.
Märchen der siebenbürgischen Zigeuner. Bearbeitet von Astrid Brüggemann. Aus: Märchen der Welt, Märchen von der Liebe, Fischer Taschenbuchverlag 1999. Quelle: Heinrich von Wlislocki: Volksdichtungen der siebenbürgischen und südungarischen Zigeuner, Wien 1890.